20. Oktober 2010

Gigantisches Quantenobjekt im Bremer Fallturm

Bose-Einstein-Kondensation in der Schwerelosigkeit


Wissenschaftlern des Projektes QUANTUS (Quantengase unter Schwerelosigkeit) ist es am Bremer Fallturm erstmals gelungen, ein so genanntes Bose-Einstein-Kondensat unter Bedingungen der Schwerelosigkeit zu realisieren. Bei einem Bose-Einstein-Kondensat handelt es sich in diesem Fall um eine nahezu auf den absoluten Nullpunkt (-273,15 °C) abgekühlte Wolke von Atomen, die nicht mehr den Gesetzen der klassischen Physik gehorcht, sondern nur noch als quantenmechanische „Materiewelle“ beschrieben werden kann. Wie das Wissenschaftsmagazin Science heute in seiner neuesten Ausgabe berichtet, wurde im Projekt QUANTUS eine Apparatur entwickelt, die es erlaubt, im freien Fall ein solches Bose-Einstein-Kondensat zu erzeugen und dessen Entwicklung zu einem Objekt von Millimetergröße über eine Sekunde lang zu verfolgen. Damit wurde eine robuste und viel versprechende Quelle für Materiewellen entwickelt, welche in Zukunft in hochpräzisen Messgeräten u.a. auf Weltraummissionen zum Einsatz kommen können.

Bei extrem tiefen Temperaturen zeigt sich der so genannte „Welle-Teilchen-Dualismus“ der Materie. Anschaulich bedeutet dies, dass ein Atom nicht mehr als eine Art Ball beschrieben werden kann, sondern gleichzeitig typische Eigenschaften einer Welle zeigt. Das gleiche Prinzip wurde 1905 von Albert Einstein für Photonen, die Lichtteilchen, gezeigt. Einstein war es auch, der in den 1920er Jahren zusammen mit dem indischen Physiker Bose vorhersagte, dass bestimmte Materiearten bei extrem tiefen Temperaturen einen neuen Aggregatzustand einnehmen und ein Bose-Einstein-Kondensat bilden sollten. Experimentell gezeigt wurde dies zum ersten Mal im Jahr 1995 u.a. vom deutschen Physiker Wolfgang Ketterle, der hierfür im Jahr 2001 zusammen mit Eric Cornell und Carl Wieman den Nobelpreis erhielt. Seitdem wurden Bose-Einstein-Kondensate in einer Vielzahl von Experimenten untersucht und sind mittlerweile ein unverzichtbares Werkzeug bei der Erforschung physikalischer Fragestellungen.

In der QUANTUS-Apparatur ist es nun gelungen, ein Bose-Einstein-Kondensat zu erzeugen und es sich im freien Fall über 1 s auf eine Größe von etwa 1 mm ausdehnen zu lassen. Dies stellt einen wichtigen Schritt bei der Weiterentwicklung von hochpräzisen Messgeräten auf Basis von Materiewellen dar, den so genannten Materiewellen- oder Atom-Interferometern, welche sowohl zur Vermessung des Erdschwerefeldes als auch zum Test fundamentalphysikalischer Prinzipien dienen können. Von besonderem wissenschaftlichen Interesse ist hier das ebenfalls von Einstein formulierte „Äquivalenzprinzip“, welches besagt, dass unterschiedliche Objekte unabhängig von ihrer Zusammensetzung in gleicher Weise z.B. zur Erde fallen. Dieses ist einer der Eckpfeiler der Allgemeinen Relativitätstheorie, welche bisher noch nicht mit der Quantenmechanik in Einklang gebracht werden konnte. Auf dem Weg zu einer Vereinheitlichung der beiden Theorien kann also ein Test des Äquivalenzprinzips mittels quantenmechanischer Objekte wie den Bose-Einstein-Kondensaten wichtige Erkenntnisse liefern.

Da solche Messungen auf den freien Fall angewiesen sind, wurde nun eine Apparatur für den Einsatz im 146 m hohen Fallturm am Zentrum für angewandte Raumfahrttechnologie und Mikrogravitation (ZARM) an der Universität Bremen entwickelt. Dieser bietet eine hervorragende Möglichkeit, ein Experiment für 4,7 s in Schwerelosigkeit zu versetzen und das Bose-Einstein-Kondensat so über eine Zeitspanne zu beobachten, die in einem normalen Labor nicht erreicht werden können. Trotz der immensen Komplexität der Apparatur konnten bisher über 180 Abwürfe am Fallturm damit durchgeführt werden. Die bisherigen Forschungsergebnisse bilden die Grundlage für zukünftige Experimente, welche mit dem Bose-Einstein-Kondensat ein Materiewelleninterferometer realisieren und dessen Potential als Präzisionssensor untersuchen sollen.

Das Projekt QUANTUS ist ein Zusammenschluss deutscher und europäischer Forschungseinrichtungen, darunter die Leibniz Universität Hannover, die Universität Ulm, die Humboldt-Universität zu Berlin, die Universität Hamburg, das Max-Planck-Institut für Quantenoptik, die Universität Darmstadt, die Ecole Normale Superieure de Paris, das Midlands Ultracold Atom Research Center in Birmingham, das DLR-Institut für Raumfahrtsysteme und das Zentrum für angewandte Raumfahrttechnologie und Mikrogravitation (ZARM) in Bremen. Finanziert wurde das Projekt durch das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) mit Mitteln des Bundesministeriums für Wirtschaft undTechnologie (BMWi).

Science:
dx.doi.org/10.1126/science.1189164

Weitere Infos:
Projektseite QUANTUS


Ansprechpartner:

Dipl.-Phys. Hauke Müntinga

Dr. Sven Herrmann

Prof. Dr. Claus Lämmerzahl

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